EDITORIAL EDITORIAL Vor allem, wenn sich die Impfungen weiter hinziehen und sie uns am Ende vielleicht doch nicht vollständig von der Pandemie erlösen, dann wird sich zeigen: Corona-Müdigkeit ist eine Folge von Perspektivlosigkeit. Was nottut ist einerseits, dass nun endlich in Gang kommt, was viele zu oft nur als angekündigt und wieder einkassiert registriert haben: Impfen und Testen im großen Stil. Andererseits scheint genauso wichtig, die wenigen Öffnungen im Kultur-, Sport-, Konsumbereich als das zu betrachten, was sie sind: Ventile, um Frust abzulassen. Das sind Spielräume, in denen Menschen sich wieder anders erleben können als daheim, denn alle Gesellschaftsspiele sind gespielt, alle Spazierwege in der näheren Umgebung abgeschritten. Aber vorsichtig und bedacht: Die so lange ersehnten Mini-Lockerungen, das Einkaufen mit Termin, das Öffnen der Museen, sind vertretbare und für das soziale Leben dringend notwendige Erleichterungen. Doch auch, wenn sie von den Corona-Müden als Startsignal gewertet werden möchten, im privaten Leben Einiges nachholen zu können: Dies ist noch nicht Lösung zurück in das unbeschwerte Leben, allenfalls sind es erste Schritte zu etwas mehr „Normalität“. Normalität, wie wir sie kannten, scheint noch weit entfernt. Sollten wir uns besser auf eine „neue Normalität“ einstellen? Ob es uns passt oder nicht, es liegt weiterhin an jedem Einzelnen, dem Virus im privaten Bereich nicht zu viele Chancen zu geben. Es ist vieles schlecht gelaufen, und die grassierende Corona-Müdigkeit ist verständlich. Aus dem „mütend“-Gefühl heraus unvorsichtig zu werden, wäre jedoch fatal. Gegen das, was da alles müde macht und nervt, hilft Kreativität. Die zeigt sich auch in den mehr als 1.000 neuen Wortbildungen, die während der Pandemie Teil unseres Wortschatzes geworden sind – so wie „mütend“, die spontan erfundene Kombination aus „müde“ und „wütend“. Aber Kreativität allein reicht nicht, um den „mütend“-Zustand zu überwinden, das gelingt am ehesten mit sinnvoller Beschäftigung. Denn es lechzen alle, endlich wieder Sinnvolles zu tun. Oder ist es so, dass der Mensch sich einmal mehr während Corona verhält, als sei nur sein Leben schützenswert? UMWELTSCHUTZ JETZT Nachdem sich in Dänemark auf mehreren Nerzfarmen Tiere und Menschen mit Corona-Mutationen infiziert hatten, fielen hunderttausende Nerze dem Infektionsschutz zum Opfer. Die Entsorgung der Kadaver hat zu Umweltproblemen geführt, die einer biblischen Plage in nichts nachstehen. Tiere und Umwelt sind aber auch bei uns betroffen: Gefühlt waren auf den Straßen und in den Parks nie so viele Jogger unterwegs wie während des ersten Lockdowns im Frühjahr. Ältere Ehepaare wie junge Pärchen, ganze Familien sind bei der morgendlichen Runde zu beobachten oder scheinen plötzlich die Freuden des Spazierengehens für sich entdeckt zu haben. Auf Naturschutzgebiete herrscht bei stillgelegtem Gesellschaftsleben mehr Andrang. Es gibt Studien, die zeigen, dass 26 Prozent der Menschen, die sich während der ersten Pandemiemonate in Parks aufhielten, im Jahr zuvor kein einziges Mal in der Natur gewesen waren. Zwei Drittel der Befragten gaben an, mehr im Garten zu arbeiten als im Vorjahr, die Hälfte der Antwortgebenden verbrachte mehr Zeit in der Natur, um zu fotografieren oder sich sonst irgend- wie künstlerisch zu betätigen. Ganze 64 Prozent beobachteten im Frühjahr 2020 öfter Wildtiere als sonst. Das ist einerseits schön, andererseits auch traurig. Offenbar bedurfte es erst einer Katastrophe wie Corona, um den Menschen bewusst zu machen, wie erholsam und beruhigend es ist, sich draußen aufzuhalten. Und es ist paradox. Schließlich war es auch der rücksichtslose Umgang mit der Natur, der den Ausbruch der Pandemie begünstigt hat. War das nicht anfangs die Botschaft? Das Coronavirus ist von Tieren auf Menschen übergesprungen; wahrscheinlich auf einem Markt, auf dem Wildtiere in engen Käfigen zusammengepfercht werden. Inzwischen richtet sich das Augenmerk zwar auch auf andere mögliche Ursachen, doch Fakt ist: Die Art und Weise, wie unsere Spezies mit allen anderen auf diesem Planeten umspringt, erhöht die Gefahr neuer Pandemien. Zuhause entsteht mehr Verpackungsmüll. Außerdem verbraucht man viel Energie. Dem nicht genug, liegen draußen medizinische Einweg-Produkte herum. Umweltschutz scheint in der Pandemie nur noch peripher zu interessieren. Ein offensichtlicher Fehler: Ohne einen schonenden Umgang mit der Umwelt wird COVID-19 nicht die letzte Pandemie der Gegenwartsgeschichte sein. Können wir dieses Risiko eingehen? Allein durch das Corona-Virus starben und sterben weiterhin weltweit überproportional viele Menschen, scheinbar schneller, in jedem Fall mehr wahrgenommen als durch den Klimawandel, der als Todesursache nicht so eindeutig zu benennen ist. Doch beides – vom Menschen (mit)verursachter Klimawandel und Pandemie- Gefahr – sind Teil desselben Problems. Das macht es umso erschreckender, dass ein Großteil nicht auf Umweltschutz achtet. Dabei wäre etwas ökologische Rücksicht auch in der Corona-Zeit leicht umzusetzen. Die Furcht vor Corona hat uns gelehrt, im Alltag vorsichtig, überlegt und bewusst präventiv zu agieren. Genau das erfordert auch die Klimakrise. Müdigkeit können wir uns nicht leisten! WEITER AUF DER SUCHE NACH SINNVOLLER BESCHÄFTIGUNG: DIGITAL AUS DER KRISE Welchen Klang hat das Wort „Digitalisierung“ in Ihren Ohren? Schwingt vielleicht schon ein bisschen Routine mit? Immerhin gibt es praktisch keinen Lebens- und Arbeitsraum mehr ohne. Das Zuhause ist vielleicht schon smart, in der Firma wird digitalisiert auf Teufel komm raus – und die virtuelle Brücke zwischen beiden Welten heißt Teams-Meeting. 5